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Title
Prekäre Freizügigkeiten. Sexarbeit im Kontext von mobilen Lebenswelten osteuropäischer Migrant*innen in Berlin


Author(s)
Probst, Ursula
Extent
282 S.
Price
€ 39,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Miriam Gutekunst, Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Wie stehst du zu dem Thema?“ Dieser Frage widmet die Sozial- und Kulturanthropologin Ursula Probst ein ganzes Kapitel, wurde sie doch selbst von ihren Forschungsteilnehmer:innen immer wieder damit konfrontiert. Diese von ihrem Forschungsfeld eingeforderte Positionierung verweist auch auf die sehr emotionalisierte und polarisierte Debatte um Sexarbeit, die seit Jahrzehnten und spätestens seit der Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes 2017 verstärkt in Deutschland geführt wird und die eine wichtige Rahmung von Probsts Forschung darstellt. Bereits die Verwendung des Begriffs „Sexarbeit“ (anstelle von „Prostitution“ oder „Sexkauf“) – für den sich Probst entscheidet, „um die Verbindungen der Tätigkeit zu Lohnarbeit und Einkommensgenerierung sichtbar zu machen“ (S. 46) – impliziert eine Positionierung. Den öffentlichen Diskurs um das Thema Sexarbeit und Prostitution, in dem die Figur der „osteuropäischen Prostituierten“ als Symbol für die Opfer der Sexindustrie fungiere, kritisiert die Autorin als zu vereinfachend und viktimisierend. Mit ihrer ethnographischen Studie setzt sie den dominanten homogenisierenden Narrativen Komplexität und Heterogenität entgegen: zum einen durch einen Einblick in die vielfältigen Lebenswelten von Sexarbeiter:innen in Berlin und zum anderen durch eine differenzierte Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse, durch die viele osteuropäische Migrant:innen in Berlin marginalisiert und prekarisiert werden. Insgesamt hat Probst von Juli 2017 bis August 2018 mit 45 sexarbeitenden Personen geforscht, die aus osteuropäischen Ländern kamen und in Berlin auf dem Straßenstrich, in Bordellen, im Escort- oder SM-Bereich oder in Stripclubs tätig waren. Sie führte mit ihnen ethnographische Gespräche und teils narrativ-biographische Interviews – vor allem auf Deutsch, Englisch und Russisch, zwei zusammen mit Dolmetscher:innen auf Ungarisch und Bulgarisch. Außerdem waren mehrmonatige teilnehmende Beobachtungen unter anderem an zwei Straßenstrichen – dem Kurfürsten- und dem Nollendorfkiez – Teil ihrer Forschung. Methodologisch war für Probst das Konzept der affective scholarship nach Stodulka, Mattes und Selim1 erkenntnisbringend: Emotionen der Forscherin, die kontinuierlich während der Feldforschung in einem sogenannten Emotionstagebuch festgehalten werden, dienen dabei als wichtiges Datenmaterial und sind relevant für den Erkenntnisgewinn (S. 49). In ihrer Analyse leitete sie die Frage, „warum für die Forschungsteilnehmer:innen ‚Osteuropäisch-Sein‘ einer Inklusion in die in Berlin verhandelten Ideen von ‚Europa‘ mitunter im Weg stand – und was überhaupt dazu führte, dass ihre Herkunft eine derart prominente Rolle in ihrem Alltag einnahm“ (S. 39). Die darin „ersichtlichen Ambivalenzen“ versteht sie „als Resultat und gleichzeitig Ausdruck lokalisierter Verhandlungen des neoliberalen ‚Europa‘“ (ebd.).

Die Kapitelstruktur des Buchs hat einen klassischen Aufbau: Nach einer Einordnung in die sozial- und kulturanthropologische Sexarbeitsforschung und einer methodologischen Reflexion der Studie folgen mehrere Kapitel, in denen die Autorin ausgehend von ihrem empirischen Material die mobilen Lebenswelten ihrer Protagonist:innen machtkritisch analysiert.

Zunächst legt Probst den Fokus ihrer Analyse auf Berlin als urbanem Raum, in dem „(ost-)europäische“ Zugehörigkeiten verhandelt werden. Die Kurfürstenstraße dient dabei als Prisma dieser Aushandlungen, die laut Probst entlang von Sexualität, Armut und europäischen Ost-West-Dichotomien verlaufen. Der Straßenstrich existiert bereits seit über 130 Jahren und wurde in medialen Debatten zum Sinnbild für die prekäre Situation von Sexarbeiterinnen. Während die Berliner Sexarbeitslandschaft in den letzten Jahren einer zunehmenden Digitalisierung sowie Verhäuslichung geprägt war, ist der Kurfürstenkiez einer der letzten Orte, wo Sexarbeit für die Öffentlichkeit sichtbar ist. Wie Probst zeigt, wird dieser Straßenstrich heute tatsächlich vor allem von denjenigen genutzt, die aufgrund ihrer prekären Lebenslage und fehlenden Ressourcen keinen Zugang zu anderen Räumen bekommen. Die Autorin fragt in diesem Zusammenhang danach, woran „die osteuropäische Prostituierte“ im Kurfürstenkiez überhaupt erkannt werde. Sie kommt zu dem Schluss, dass die verkörperlichten Differenzen – zum Beispiel in Abgrenzung zu Anwohner:innen und Tourist:innen – nicht gesetzt sind, sondern in den Begegnungen mit sexarbeitenden Personen wiederholt aktiv konstruiert und ausgehandelt werden (S. 72). Dabei spiele das Wissen um käufliche sexuelle Handlungen sowie damit einhergehende Regulationspraktiken eine wichtige Rolle. Marker sind ethnisiert-rassifizierte sowie vergeschlechtlicht-sexualisierte Stereotype, die die Akteur:innen auch immer wieder zu einer Gefahr für die öffentliche Ordnung als auch zu hilflosen Opfern konstruieren. Durch eine bewusste Abgrenzung von dieser im Kurfürstenkiez omnipräsenten stereotypen Vorstellung der „osteuropäischen Prostituierten“ wird es wiederum anderen Migrant:innen aus Osteuropa möglich – zum Beispiel durch spezifische Kleidungspraktiken –, nicht als Sexarbeiter:innen erkannt und unsichtbar zu werden sowie dadurch gleichzeitig Zugehörigkeit zu Berlin und (West-)Europa zu inszenieren.

In einem nächsten Schritt stehen die subjektiven Perspektiven der sexarbeitenden Personen im Mittelpunkt: ihre Motivationen, Hintergründe und Sichtweisen. Ihre Tätigkeit in der Sexarbeit erfährt durch die Erzählung ihrer Lebensgeschichten und Beweggründe eine Kontextualisierung innerhalb mobiler Lebenswelten von Migrant:innen aus „Osteuropa“. Die dichotome Frage von Zwang oder Freiwilligkeit löst sich dabei auf in ein komplexes Wechselspiel zwischen strukturellen Ausschlüssen und subjektiver Handlungsmacht. Entlang dieses Spannungsverhältnisses navigieren die Forschungsteilnehmer:innen ihre Träume und Vorstellungen von einem „guten Leben“, das sie anstreben und das geprägt ist von hegemonialen Normen und Werten eines neoliberalen „(West-)Europas“. Das Konzept der „mobilen Orientierungen“ nach Mai2 ermöglicht Probst diese situierte und kontextualisierte Analyse von agency (S. 105). Es wird deutlich, dass Sexarbeit zu einer Option der Einkommensgenerierung wird, um jene Träume zu verfolgen, wofür die Protagonist:innen häufig auch Stigmatisierung und Ausbeutung auf sich nehmen. Bei all den Erzählungen der Forschungsteilnehmer:innen wird deutlich, wie diese mit ihrem Handeln Strukturen immer wieder reflektieren und herausfordern sowie auch reproduzieren (S. 135).

Das Spannungsverhältnis zwischen stereotypen Zuschreibungen und dem Bruch mit diesen zeigt sich auch im Umgang der Akteur:innen mit Rassifizierungsprozessen, denen sie in ihrem Alltag ausgesetzt sind und die ihr Verständnis von Zugehörigkeit mitprägen. Probst macht deutlich, dass weiß-Sein in Europa auf Differenzierungen beruht, die nicht nur entlang phänotypischer Merkmale wirkmächtig werden und auch nicht ausschließlich zwischen „Europäer:innen“ und nicht-weißen „Anderen“ unterscheiden. Es spielten auch „Europa-interne Hierarchien des weiß-Seins“ eine wichtige Rolle, „die wiederum die Vormachtstellung nord- bzw. westeuropäischer Länder in der Europäischen Union (EU) und darüber hinaus perpetuieren“ (S. 138). Auf der Grundlage der Erfahrungen der Forschungsteilnehmer:innen stellt Probst fest, dass sie in ihren Lebenswelten vor allem mit vergeschlechtlichten und sexualisierten Osteuropastereotypen konfrontiert sind: Hier wird die stereotype und dichotome Vorstellung der emanzipierten „europäischen“ Frau in Abgrenzung zu der passiven, aber sexuell „verfügbaren“ „osteuropäischen“ Frau wirkmächtig. Diese verschränkt sich mit einem Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja, der teils von den Protagonist:innen selbst reproduziert wird, um sich abzugrenzen und unsichtbar zu werden (S. 139f.). Probsts Studie macht auch die materiellen Effekte sichtbar, die das Othering osteuropäischer Migrant:innen hervorbringt und in denen sich Rassismus und Klassenstrukturen verschränken: So dienen rassifizierende Zuschreibungen und die Abwertung „Osteuropas“ dazu, die Ausbeutung eben jener Menschen zu legitimieren – sei es im Reinigungs- und Pflege-Sektor oder auch in der Landwirtschaft oder der Bauindustrie, wo Menschen osteuropäischer Herkunft unter extrem prekären Bedingungen den Wohlstand und den individualisierten und liberalisierten Lebensstil westeuropäischer Gesellschaften sichern. Sexarbeit wird dabei zu einer Beschäftigung neben anderen nicht weniger ausbeuterischen und prekären Tätigkeiten, um den eigenen Vorstellungen von einem „guten Leben“ ein Stück näher zu kommen (S. 230f.).

Insgesamt handelt es sich bei dieser Studie aus dem Feld der kritischen Sexarbeitsforschung um eine sehr reflektierte und fundierte Arbeit, die nicht nur den öffentlichen Diskurs bereichert, sondern auch die Forschungslandschaft rund um Migration, Geschlecht, Ost-West-Dichotomien und soziale Ungleichheiten im neoliberalen Europa. Auch wenn der Forschungsstand in diesem Feld sehr gut aufgearbeitet wurde, wäre es sicher produktiv gewesen, die deutschsprachige kritische Migrations- und Grenzregimeforschung besonders im Feld EU-interner Migration und in Bezug auf die Rolle des Menschenhandel-Dispositivs in der EU-Migrationspolitik noch mehr zu berücksichtigen.3 Diese Lücke könnte auch auf nach wie vor bestehende institutionelle Gräben und fehlenden Austausch zwischen Ethnologie bzw. Sozial- und Kulturanthropologie und Europäischer Ethnologie bzw. Empirischer Kulturwissenschaft zurückzuführen sein. Um Rassifizierungsprozesse noch genauer und differenzierter herauszuarbeiten, wäre vielleicht ein Sampling, das die Kategorie „Herkunft“ vernachlässigt, noch erkenntnisreicher gewesen. Probst zeigt mit ihrer Arbeit jedoch erneut, was eine gute Ethnographie an Kompetenz, Bereitschaft und Offenheit erfordert, aber auch was sie leisten kann: einzelne Menschen so nah in ihrem individuellen Alltag zu begleiten und sichtbar zu machen und gleichzeitig gesellschaftliche Verhältnisse zu analysieren, die uns alle betreffen. Dabei ist die Autorin in ihrer Forscherinnen-Rolle sehr transparent und (selbst-)kritisch, was nicht nur interessant und anregend zu lesen, sondern auch Teil des Erkenntnisprozesses ist. Sie schafft es in ihren Erzählungen, den Alltag sexarbeitender Personen zu ent-exotisieren, ohne deren Lohnarbeit zu normalisieren oder zu relativieren. Wer sich also eine Meinung in diesem Themenfeld bilden und sich im öffentlichen Diskurs positionieren möchte, sollte diese Studie auf jeden Fall gelesen haben.

Anmerkungen:
1 Thomas Stodulka / Dominik Mattes / Nasima Selim, Affective scholarship. Doing Anthropology with Epistemic Affects, in: Ethos 46,4 (2018), S. 519-536.
2 Nicola Mai, Mobile orientations. An intimate autoethnography of migration, sex work, and humanitarian borders, Chicago 2018.
3 Siehe zum Beispiel die Arbeiten von Sabine Hess oder Lisa Riedner.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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